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Systemtheorie light: Buchbranche

Heute ein bisschen polarisierend. ;)


Vor zwanzig Jahren war es noch völlig normal, monatlich für Musik CHF 100.- (Euro) auszugeben. Das waren schließlich gerade mal vier CDs! Und wenn man keine Lust auf Kino hatte, ging man in die Videothek, wo man einen Film für CHF 15.- ausgeliehen hat – der Preis variierte natürlich, je nachdem wie lange man die VHS (!) zu Hause rumliegen hatte.


So was ist heute niemand – okay, sind wir fair – kaum jemand mehr bereit zu bezahlen. Ein Aufschrei ging durch das Land, als Netflix die Abogebühren um CHF 2.- erhöht hat. Also bitte, da kann man doch nur den Kopf schütteln.

Doch dies zeigt sehr schön, wie es um unsere Gesellschaft steht. Obwohl sich während Corona alle darüber beklagt haben, dass Konzerte, Theater, Opern oder Sportanlässe (wenn überhaupt) vor leeren Rängen stattfanden, ist sich doch jeder (ich weiß, nicht alle) zu gut, etwas dafür zu bezahlen. Spotify bietet die Gratis-Option an, wenn man sich mit ein paar Einschränkungen und Werbung abfinden kann. Und Netflix bietet eine schier unbegrenzte Auswahl an Filmen, Dokus und Serien zu einem Preis, den sich nun wirklich JEDER leisten kann.


Und was ist mit der Buchbranche? Hach, die stirbt doch den gleichen, wenn auch langsameren Tod wie die Musik- und Filmbranche. Starautoren werden zu den Rettungsbojen, ohne die große Publikumsverlage schon längst untergegangen wären. Und selbst die halten sich nur, weil sie noch von den fetten Jahren zehren. Kleinverlage leben mehr von der Leidenschaft als von den Tantiemen. Schriftsteller ... na ja ... das sind zwar die Macher, aber letztendlich vielleicht doch mehr Träumer, als sie sich mit dem Wurf ihrer fiktiven Werke selbst eingestehen würden / wollen / sollten / können. (Such dir eins aus.)


Anders als die Musiker, die es bereits vor Jahren zu spüren bekommen haben, dass sie für Gratis arbeiten, weil die Tantiemen von Spotify kaum erträglich (im übertragenen sowie auch im eigentlichen Sinne) sind, dies aber neben Konzerten so ziemlich die einzige Chance ist, überhaupt noch gehört zu werden, wird es wahrscheinlich auch für viele Schriftsteller noch ein böses Erwachen geben.


Jede Branche hat ihre Zielgruppe. Aber wo ist die heute? In den 80er Jahren noch war es viel einfacher, mit Kunst und Unterhaltung Geld zu verdienen. Man wusste, wo die Abnehmer waren. Und die Abnehmer haben einen gefunden – oh ja, auch ohne das Internet. Metal-Heads gingen an Metal-Konzerte, Raver an Technopartys und Opernfreaks ins Opernhaus. Und wer ein Buch lesen wollte, ging in den Buchladen, wo einem die "Gewinner der Vorauswahl" präsentiert wurden.


Diese Buchbranche gibt es zwar noch immer, aber dadurch, dass das Selfpublishing salonfähig wird, muss sie mehr und mehr als Platzhirsch rücken. Die Digitalisierung schafft einen Wald, den man vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Und die Masse der Bücher lässt überhaupt nicht mehr durchblicken, was von Wert ist und was in die Tonne gehört. Die Buchbranche wurde zu verschiedenen kleinen Szenen, die jede wie ein Mikrokosmos funktioniert und durch Selbstbeweihräucherung und Meinungsaustausch vorangetrieben und aufrechterhalten wird.


Früher war es noch von großer Bedeutung, wer in Hollywood einen Oscar bekommen hat. Das interessiert heute niemanden mehr – wer wem eine Ohrfeige verpasst, schon eher. Genauso wirken Literaturpreise nur noch im eigenen Mikrokosmos. Kompetenz – auch wenn sie unbestritten ist – findet ihre Anerkennung nur noch in den eigenen Reihen, in denen die gleichen Werte geteilt werden.


Wer sich gegen den Beitritt in eine Gruppe entscheidet, steht ganz schnell allein da. Und allein stehen die Chancen schlecht. Denn Darwin lässt grüßen: Wer allein nicht stark genug ist, sucht Schutz in einer Gruppe. Ist doch logisch.


Doch jedes System bricht irgendwann zusammen und baut sich neu auf. Wer sich in der Kulturtheorie auskennt, dem ist vielleicht die Geschichte von der Stadt- und der Landratte ein Begriff. Nachzulesen in Michele Serres' Der Parasit – oder in der kurzen Zusammenfassung am Ende des Textes.

Systeme gibt es überall. Unsere ganze Welt funktioniert so. Und auch die Buchbranche ist ein System. Die Spirale zieht nach oben, bis irgendeine Störung auftaucht, die das System zum Einsturz bringt. Dann baut es sich neu auf – nur eben in veränderter bzw. angepasster Form.


Man könnte sagen, dass Selfpublishing salonfähig wurde, war eine Störung im System der Buchbranche. Und beim Versuch, den Status Quo wieder aufzubauen, hat sich die eine oder andere Veränderung eingeschlichen.


Kann man die Störung umgehen und den Einsturz verhindern?

Nein, denn die Störung ist dem System inhärent.


Ich frage mich grade, ob es vielleicht für alle von Nutzen wäre, wenn wir die nächste Störung etwas beschleunigen. Mit der anarchistischen Einstellung, dass Kulturgut für alle da ist/sei/sein sollte (?) – und am besten auch noch kostenlos, weil die Künstler ja eh alle von Licht und Liebe leben – sollte es doch möglich sein, den großen Knall schneller herbeizuführen.


Der Wiederaufbau von etwas Neuem bringt nämlich meist Positives mit sich.




(mcl)



Kurze Zusammenfassung der Rattengeschichte:

Stadtratte lebt beim Steuereintreiber. Sie lädt die Landratte zum Essen ein. Gemeinsam warten sie, bis der Steuereintreiber ins Bett geht, dann machen sie sich über die Reste her. Genüsslich verköstigen sie sich am Essen, das der Steuereintreiber von seinem Geld bezahlt hat. Da hören sie plötzlich ein Geräusch (Störung). Hat der Steuereintreiber sie gehört und kommt nun nach dem Rechten sehen? Sofort bringen sich die beiden Ratten in Sicherheit. Sobald der Steuereintreiber wieder schläft, kehren sie zum Festmahl zurück.

--> Die systemtheoretischen Zusammenhänge dieser Gesellschaftsgeschichte sind nachzulesen in Michele Serres' Buch Der Parasit.



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